Wir schreiben den 31. Dezember 2020. Der letzte Tag eines Jahres das ich mich schlicht und einfach weigere anzuerkennen. Im Gegensatz zu den 55 Jahren davor hat es einfach zu wenig Spaß gemacht. Jetzt gilt es die letzten paar Stunden halbwegs würdevoll über die Bühne zu bringen. Daran möchte ich meine treuen Leser teilhaben lassen. Schließlich liegen wir alle auf derselben Couch, äh, sitzen im selben Boot.
9.15 Nach zehn Stunden totenähnlichen Schlafes wache ich müder denn je auf, öffne meine verklebten Augenlider, starre kurz an die Wand meines Schlafzimmers und fühle sofort ein Gefühl in mir das man am besten mit… nun …ja wohl mit Langeweile beschreibt. Ja, mir ist sofort langweilig. Irgendwie bin ich auch enttäuscht. Noch während der Nacht hatte ich mich besser unterhalten. Da träumte ich von einer Zeit, als man am Silvester-Morgen fröhlich aus seinem Bett hüpfte, unter der Dusche das erste Marzipan-Schwein verdrückte und schon am Vormittag trunken vor Lebensfreude die ersten Sektchen in seinen Rachen kippte. Schließlich stand einem eine lange Party-Nacht bevor. Da galt es schon frühzeitig vorzuglühen…
9.20 Damit ist heuer nix . Das wird mir bewusst, als ich meinem müden Körper die letzte Dusche des Jahres vergönne. Reinwaschen vom Corona-Jahr. Hätte fast was Religiöses an sich wenn das Deo nach Weihrauch statt nach Zitrone riechen würde. Aber so…
10.00 Ich bin bereit für den täglichen Spaziergang. Ein klein wenig langweilig, vor allem weil ich Spaziergänge hasse und ich trotzdem in Ermangelung spannender alternativer Freizeit-Aktivitäten hunderte davon in den letzten Monaten hinter mich bringen musste. Während ich so vor mich hin spaziere führe ich am menschenleeren Wanderweg ein paar Telefonate mit Freunden, um zu erfahren was diese zum Jahresende so planen. Und das obwohl ich die Antworten ja bereits kenne. Es gilt eine zeitlich eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Italien, also kehrt man entweder bis 22.00 Uhr von seinen Silvester-Ausflügen (Spaziergängen???) nachhause zurück oder bleibt gleich daheim. Eher zweiteres… Sagen auch die Freunde mit weinerlichem Unterton in ihrer Stimme. Scheinen mir ziemlich deprimiert die Guten…War klar: Alkohol + Medikamente + Fernsehprogramm sind jetzt nicht die Bomben-Stimmungsaufheller. Ein Freund sitzt aus lauter Frust schon vor der Glotze und zieht sich den Klassiker „Zwerg Nase“ (ARD 10.20) rein. Und er leugnet es nicht mal, als ich ihn auf die kindlichen Fernsehstimmen im Hintergrund anspreche. O weia…
12.00 Apropos Fernsehen…Wieder zuhause checke ich mit meiner Gattin das Unterhaltungsprogramm für den Silvester-Abend. Aus Zeiten als ich noch nicht voller jugendlichem Tatendrang hemmungslos -und der Schwerkraft trotzend über die verschiedenen Tanzflächen schwebte (1964-1977) weiß ich, dass es damals tolle Silvester-Shows mit Peter Frankenfeld, den Jacob Sisters und Walter Giller gab. Ein Sketch jagte den anderen und Musik war noch Trumpf. Und ich saß mit meinen Eltern auf der Wohnzimmercouch und freute mich meines kindlichen Daseins. Das waren Zeiten…Sage ich jetzt mal…
Bei dieser Gelegenheit möchte ich alle Leser meines Blogs in den verschiedenen Altersheimen und auf den Friedhöfen von Mittenwald bis Rudbol grüßen. Manche von ihnen (also die Überlebenden) werden mir Recht geben, wenn ich sage, dass Dieter Thomas Heck damals fast noch schlimmer war als Corona. Eben… Lasst uns doch auch mal positiv denken.
15.00 Nach einem leichten Mittagessen, einem ausgedehnten Mittagsschläfchen und einer Familien-Vollversammlung an dem jetzt auch die beiden Töchter teilnehmen, die erstmals seit 16 Stunden ihre Zimmer verlassen haben, wo sie (vergeblich) im Internet nach Trost für das leicht verdrießliche Silvester 2020 gesucht haben, haben wir immer noch keine Einigung gefunden wie unser Abend aussehen könnte. Provokativ empfehle ich den Genuss einiger Fernseh-Weihnachts-Neujahrs-Klassiker wie ,,Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, ,,Die Feuerzangenbowle“, ,,Princess Charming“ und ,,Dinner for one“. In den darauffolgenden Stunden bis 18.00 bin ich damit beschäftigt die offenen Wunden zu desinfizieren, die mir meine gut gemeinten Vorschläge eingebracht haben. Wer hätte gedacht, dass drei an und für sich so sanftmütige Wesen wie meine Gattin und die beiden Töchter so aggressiv werden könnten. Aber 2020 ist eben alles anders…
20.00 Kein (langweiliges) Silvester ohne Fondue. Heißassa, ist das lustig. Und lecker. Und so, äh endlos…
20.15-22.00 Während wir uns die Mägen vollschlagen und dem Alkohol-Genuss frönen läuft im Hintergrund ,,Ist das Leben nicht schön“ aus dem Jahr 1946 mit James Stewart in der Hauptrolle im Fernsehen (ARTE). Wenn schon (alt), denn schon (langweilig) denken wir uns, während unsere eh schon Corona-geschwächten Sinne immer umnebelter werden. Außerdem ist der Filmtitel aufbauend und gibt Hoffnung für das kommende Jahr.
23.00 Die Stimmung ist am Siedepunkt. Die Freunde, die noch nicht alkoholbedingt in der Notaufnahme sind oder den Freitod gewählt haben wünschen am Telefon alles Gute für das neue Jahr.
23.30 Die legendäre Spotify-Liste des Familienoberhauptes sorgt für nahezu ekstatische Gefühlsregungen unter den Familienmitgliedern.
23.59 Bewaffnet mit Champagner-Gläsern zählen wir die letzten Sekunden des zu Ende gehenden Jahres runter, bevor wir uns Punkt 00.00 in die Arme fallen.
00.01 Alles wird gut. Da bin ich mir ganz sicher!
1 Kommentar
von Michael H. Linnig
Hallo Herr Dr. Gartner,
sollte uns das Corona-Virus wider erwarten doch nicht aus seinem Würgegriff entlassen, empfehle ich Ihnen sich als Schriftsteller zu verdingen. Ein Versuch wäre es sicher Wert.
Aber bis es gar soweit kommt, halten wir es so:
“Wir denken positiv und bleiben negativ”.
Ihnen und Ihren Lieben einen guten Start in ein Jahr, dass Ihnen Gründe genug liefert es wieder anzuerkennen.
Herzliche Grüße vom Bodensee nach Tirolo.